Das Märchen beginnt, wie alle Märchen beginnen, es war einmal….
Es war einmal eine kleine, blitzsaubere Stadt, mit zufriedenen Bewohnern, bunten Häusern, einem schmucken, alten Schloss auf einem grünen Berg. Der Wohlstand war für Jedermann ersichtlich.
Doch begab es sich, dass aus anderen Teilen des Landes Besucher durch die kleine Stadt wanderten und die Zufriedenheit und der Reichtum des kleinen Städtchens erweckte Neid bei ihnen. In ihrer Stadt, die zwar etwas größer, aber leider auch viel grauer und trister war, war es nicht so schön und das Leben dort war viel härter.
Obwohl sie viel arbeiteten und schufteten, wollten sich richtiger Reichtum und Zufriedenheit nicht einstellen. Was sie auch versuchten, sie fanden immer, dass es in dem kleinen Städtchen schöner, besinnlicher, bunter, wohlhabender und auch zufriedener zu leben war. Alles sah harmonisch aus und die Menschen lachten sich freundlich zu.
Die Besucher konnten gar nicht verstehen, dass sich das schöne Leben in ihrer Stadt nicht einstellen wollte. Sie riefen ihre Soldaten zusammen und zogen mit allerlei Getöse in die kleine Stadt. Hier besetzten sie alle amtlichen Häuser, wählten ihre Beamten in die entsprechenden Gremien. Kurzum, sie übernahmen die kleine Stadt, um die eigenen Begehrlichkeiten zu befriedigen. Sie glaubten wahrhaftig, dass sie somit auch in den Genuss kommen würden, ein so frohes und glückliches Leben zu führen, wie die Bewohner der kleinen Stadt. Jeden Morgen traten sie vor ihre Türen und fanden immer wieder, dass es bei ihnen schon viel freundlicher aussah und dass es sich doch schon viel besser leben ließ.
Leider war das nicht der Fall. Im Gegenteil, die kleine Stadt veränderte sich zusehends. Da die Besatzer, wie man die ehemaligen Besucher nun nannte, alles Geld und allen Wohlstand aus der kleinen Stadt herauspressten, verfiel die kleine Stadt immer mehr. Die Grünanlagen wucherten zu, die Arbeiter der kleinen Stadt waren gezwungen, in der großen Stadt zu arbeiten und dort die Grünanlagen zu pflegen. Ebenso die Häuser, die Fabriken und sogar das alte Schloss der kleinen Stadt wurden immer mehr dem Verfall preisgegeben. Die Armut machte sich breit in der kleinen Stadt. Geschäfte schlossen, Fabriken wurden verlegt, jeder, der es eben konnte, verließ die kleine Stadt. Die Geschäftsleute kehrten in Scharen der kleinen Stadt den Rücken und suchten ihr Glück woanders. Einige Bewohner des kleinen Städtchens, die am Anfang noch versucht hatten etwas zu erhalten und positiv Einfluss zu nehmen, wurden immer mehr unterdrückt und schwiegen irgendwann. Denn die Last, die sie zu tragen hatten wurde einfach unerträglich.
Wohin man blickte sah man Trostlosigkeit und Verfall. Die ehemalige Fahne am großen Turm des alten Schlosses hing in Fetzen herunter. Selbst der Adelige des alten Schlosses, der sein altes Schloss immer gerne besucht hatte um die Annehmlichkeiten des kleinen Städtchens zu genießen, blieb fern. Er war dem Nachbarland neu verpflichtet und scheute den Weg in sein altes Schloss. Armut und Trostlosigkeit sind halt schwer zu ertragen für Adelige, die es ja gewohnt sind, sich mit schönen Dingen zu umgeben. Selbst das alte Wappentier, ein roter Löwe mit einst langer und stolzer Mähne, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Das Fell war dünn und filzig geworden und seine Mähne hing zottelig und unansehnlich an ihm herunter. Wie ein räudiger abgemagerter Kater schlich er abends um sein altes Schloss und klagte seinen Katzenjammer.
Man hatte das Gefühl, selbst die Wolken waren grauer, hingen tiefer und die Sonne ließ sich nicht mehr blicken.
So gingen viele Jahre ins Land und das kleine Städtchen war nicht mehr wiederzuerkennen. Eines Tages erzählte ein Großvater seinem Enkel die wunderbare Geschichte von dem einst blühenden kleinen Städtchen und seinem damaligen Wohlstand. Die bittere Armut, die jetzt in dem Städtchen herrschte, ließen dem kleinen Jungen kaum Glauben daran, dass es einmal ganz anders ausgesehen haben sollte.
Der Junge hörte die Geschichten seines Großvaters und überlegte, wie schön es sein würde, wenn die Besatzer nicht mehr das Sagen haben würden in dem kleinen Städtchen. Man könnte sich wieder um die schönen Dinge kümmern, um die Erhaltung der Häuser und der öffentlichen Bauten. Man könnte Fabrikanten locken mit günstigen Abgaben und so hätten beide etwas davon. Die Fabrikanten und die Menschen in dem kleinen Städtchen. Es würde wieder Arbeit geben, sodass die Menschen des kleinen Städtchens wieder zu Wohlstand und Reichtum kommen könnten. Man könnte Blumen pflanzen, die bunt blühen und die Häuser anstreichen mit bunten Farben.-
Als er all dies seinem Vater erzählte, ging ein Strahlen über dessen Gesicht. Wenn man doch nur einen Bewohner ermuntern könnte, sein Haus anzumalen mit einer schönen satten Farbe. Vielleicht, ja vielleicht würde es ein Beispiel sein für die anderen Bewohner der kleinen Stadt.
Der Tag verging und als das Morgenlicht den neuen Tag etwas erhellte, stand mitten in der kleinen Stadt ein kleines Haus und leuchtete in einem satten Hellblau. Das war so ein schöner Anblick, dass alle Menschen, die an diesem Morgen ihre Häuser verließen, mit staunendem Blick und weit aufgerissenen Augen auf das kleine Haus mitten in der kleinen Stadt blickten. Sie stießen sich gegenseitig an, raunten sich hinter vorgehaltener Hand bewundernde Worte zu und das kleine Haus in der Mitte der Stadt war der Mittelpunkt aller Gespräche.
Trotz vieler Recherchen der Besatzer konnte man nicht feststellen, wer dieses Haus so wunderschön angemalt hatte, denn der Besitzer des kleinen Hauses in der Mitte der kleinen Stadt war schon lange fortgezogen und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Keiner hatte mehr in dem kleinen Haus wohnen wollen und so stand es schon seit vielen Jahren leer.
..Die Besatzer liefen mehrfach um das kleine Haus und überlegten, wer wohl für diesen Anstrich zur Verantwortung zu ziehen sei. Aber so viel sie auch untersuchten und überlegten, sie fanden niemanden, den sie zur Rechenschaft ziehen konnten. Unverrichteter Dinge zogen sie wieder ab, um in ihrer eigenen Stadt gemeinsam nach einer Lösung des Problems zu suchen.
Der nächste Tag brach an und nun erstrahlten die Nachbarhäuser im Kern des kleinen Städtchens in unterschiedlichen Farben. Sie waren grün, gelb, rot, orange, lila und mitten drin stand das hellblaue Haus. In der Innenstadt öffneten zaghaft zwei Händler ihre vor Jahren geschlossenen Läden. Der Bäcker, das war der mit dem gelben kleinen Haus, legte ein paar Brote ins Schaufenster und einen Korb voll frischer Brötchen. Ein köstlicher Duft zog durch das kleine Städtchen. Einige Bewohner rieben sich gar die Augen, als sie sahen, dass der Krämer vorsichtig ein neues Tuch in sein Schaufenster legte und längst vergessene Waren darauf ausbreitete. Einige Bewohner eilten zu dem kleinen Brunnen auf dem Marktplatz und begannen die Steine mit Wurzelbürsten zu schrubben und das kleine Geländer wieder herzurichten. Fröhlich wuschen sie den Brunnen mit klarem Wasser ab und strichen das Geländer mit frischer Farbe. Die kleine Bank am Rand des Brunnens bekam auch einen neuen Anstrich und man verabredete sich für den Abend, um sich auf dem alten Schloss zu treffen. Dort versammelten sich eine Handvoll Bürger der kleinen Stadt und sie berieten, wie es nun weitergehen solle. Schnell waren sie sich einig, dass sie vor den Besatzern nicht mehr kuschen wollten.
Die Besatzer wiederum berieten sich in ihrem Rathaus in der großen Stadt. Sie beschlossen die Abgabenlast erneut empfindlich zu erhöhen. Vertraten sie doch die Meinung, dass wenn genug Geld für Farbe und Waren da sei, man auch mehr Geld bezahlen könne. Kurzum, man wollte die eigenen Stadtsäckel gründlich auffüllen. Außerdem sollte nun in der kleinen Stadt nichts mehr repariert oder sonst wie instand gehalten werden. Sollten die Bewohner der kleinen Stadt doch sehen, wie sie ohne Hilfe aus der großen Stadt klarkommen könnten.
All das bestärkte aber die Bewohner der kleinen Stadt umso mehr. Bei einem weiteren Treffen fanden sie in der unteren Remise des alten Schlosses, unter viel Schutt und Abfall, einige alte Kanonen. Diese zogen sie hervor und überlegten, ob man sie wohl wieder so instand setzen könnten, um sie gegen die Besatzer einzusetzen. Schon lange träumten sie davon, gegen die Besatzer zu kämpfen, um wieder Herren ihres eigenen kleinen Städtchens zu werden. Ja, sie wollten sie zum Teufel jagen mit all ihrer Habgier, ihrer Selbstsucht und ihrem Neid. Sie malten sich aus wie es sei, sie mit Knüppeln, Hellebarden, Keulen und Mistgabeln aus ihrer Stadt zu jagen. Da kamen ihnen die alten Kanonen gerade recht.
Jeden Abend trafen sie sich jetzt und die Schar der Freiheitskämpfer, wie sie sich nannten, wurde immer größer. Sie putzten und polierten die Kanonen aus der Remise und freuten sich über ihren gefundenen Schatz. Bei genauerem Hinsehen fanden sie ein Pulver in einem alten Sack, Lunte und mehrere große Kugeln. In einer Ecke standen große Holzstangen mit dicken Köpfen.
Sie wussten zwar nur aus Erzählungen, wie diese Kanonen zu bedienen seien, aber das störte die Freiheitskämpfer gar nicht.
Eines Tages, sie hatten die Kanonen mal wieder aus der Remise gezogen, ertönte ein Signal von der Schlossmauer. Einer der Männer hatte einen Trupp Besatzer gesichtet, der sich schnellen Fußes den Berg hinauf begab. Voran schritt ein Kommandant, mehrere Besatzer im Schlepptau. Es war sicher, dass sie nicht lange brauchen würden, um das alte Schloss und die Freiheitskämpfer zu erreichen. Die Bewohner des kleinen Städtchens überlegten nicht lange. Sie brachten die Kanonen in Stellung, luden sie mit dem Pulver, einer Kugel und zündeten die Lunte.
Mit einem großen Krawumm machte sich eine der großen Kugeln auf den Weg ins Tal und als die Bewohner dachten, sie würde jeden Moment den Trupp Besatzer treffen, zerbarst die Kugel mit einem großen Knall. Es zischte und funkte und ein roter Nebel ergoss sich auf die Besatzer.
Auch die zweite und dritte Kugel zerbarst über den Köpfen der Besatzer und der Kommandant und seine Begleiter sahen aus wie gepudert mit rotem Staub. Mit großen Augen und ungläubigem Staunen blickten sie in Richtung des alten Schlosses. drehten sich auf den Absätzen um und rannten, was hast du, was kannst du den Berg hinunter. Sie hörten nicht auf zu laufen, bis sie für die Bewohner des kleinen Städtchens nicht mehr zu sehen waren. Mit großem Jubel feierten sie ihren Sieg.
Obwohl bis heute keiner mehr weiß warum, ist von den Besatzern nie mehr auch nur eine Nasenspitze innerhalb der Mauern der kleinen Stadt gesehen worden. Das kleine Städtchen erlangte in den folgenden Jahren seinen Wohlstand zurück und die Bewohner des kleinen Städtchens feiern noch heute den Tag ihres Sieges über die Besatzer aus der großen Stadt. Viele der ehemals ausgezogenen Bewohner fanden den Weg zurück in die kleine Stadt. Auch der Sohn des Mannes, der einst das kleine, heut immer noch blaue Haus zurückließ, wohnt in dem kleinen blauen Haus, in der Mitte der kleinen Stadt.
Besonders anzumerken ist wohl, dass der rote Löwe wieder ein stolzer, langsam und aufrecht schreitender Löwe ist, der auch heute noch das Wappen der kleinen Stadt ziert und dessen Gebrüll immer dann zu hören ist, wenn ein Besatzer zu nah an die Grenze des kleinen Städtchens kommt.
Eine einzige Kugel liegt auch heute noch in der Ecke der Remise in dem alten Schloss. Davor stehen die Kanonen, sauber aufgestellt und gut gepflegt. Immer wenn in der kleinen Stadt das Fest der Befreiung gefeiert wird, werden die Kanonen bunt und festlich angestrahlt. Damit keiner je vergisst, dass man nicht ungestraft versucht, des kleinen Städtchens und ihrer Bewohner habhaft zu werden.
Die Bewohner wohnen gerne in dem kleinen Städtchen und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie da noch heute.
(c) Anja Brand
erschienen 2014 Autorenkreis Tintenfass ‚Unter unseren Dächern‘