Johanna, Mitte 30, um genau zu sein 34, blond, blauäugig, schlank und unsportlich. So, oder so ähnlich würde ich mich beschreiben. Vor ein paar Jahren hätte ich noch hinzugefügt, fröhlich und unkompliziert, aber das bin ich nicht mehr. Die Hektik des Alltags, die berufliche Belastung und meine persönliche Situation haben mich verändert.
Ich bin einfach müde. Verkrieche mich am liebsten Zuhause und habe zu nichts mehr Lust. Ich muss mich oftmals zusammennehmen um nicht in Tränen auszubrechen. Das passiert mir immer häufiger, besonders wenn ich mich in die Ecke gedrängt fühle.
Mut- und antriebslos, das ist der Arbeitstitel meines Therapeuten. Die Diagnose lautet eher depressive Phase, oder in Neudeutsch „Burnout“.
Heute ist es wieder besonders ausgeprägt. „Gehen sie an die frische Luft. Suchen sie die Sonne und bewegen sie sich mehr. Laufen sie sich frei.“ Das war der Rat, den er mir mitgegeben hat.
Ich würde lieber die Rollos herunterlassen und in mein Bett verschwinden. Aber ich nehme meinen Lederrucksack, ziehe die Tür hinter mir ins Schloss und gehe einfach los. Ich achte nicht so genau darauf wohin ich laufe und finde mich einige Zeit später auf einem Weg wieder, den ich schon seit meiner Kindheit nicht mehr gegangen bin. Eigentlich müsste ich jetzt langsam umkehren. Wohin dieser Weg genau führt, weiß ich nur noch sehr vage. Aber ich weiß, dass es ein gewaltiger Marsch ist, denn ich bleibe meiner Einstellung treu, die ich von meinem Opa übernommen habe.
„Schau nicht zurück. Das ist nicht der Weg den du gehen wirst!“
So habe ich mir immer Wege gesucht, die ich nur einmal gegangen bin. Das bedeutet aber auch, dass ich mir einen neuen Weg suchen muss, um wieder nach Hause zurück zu kommen. Eigenartig, daran habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht.
Langsam merke ich, dass ich mich besser fühle. Ich lasse meinen Gedanken und meinen Füßen freien Lauf. Ich atme tief die würzige Luft ein. Meine Hand streift die hochgewachsenen Gräser am Wegrand. Einzelne Grannen verhaken sich in meinem Pulli. Der lange Zweig eines Brombeerstrauches, der sich weit über den Weg spannt, versperrt mir fast den Weg. Er reißt an meinem Ärmel. Es fühlt sich an, als wolle er mich festhalten.
Ich bin so sehr in Gedanken versunken, dass ich das Tor in der hohen Hecke beinahe übersehen hätte. Es ist ein altes Eisentor, bestimmt zwei Meter hoch, dass jemand mit dunkelgrüner Farbe übergestrichen hat. Hier und da sucht sich der Rost seinen Weg. Das Tor steht eine Hand breit offen. Es zieht mich magisch an, einen Blick auf das fremde Grundstück zu werfen und so betrete ich langsam und zögernd die Welt hinter dem Gartentor.
Ein schmaler Weg aus Bruchsteinplatten empfängt mich. Dazu an der rechten Seite ein gemauerter Steinbrunnen, auf dessen Rand ein dicker, grüner Porzellanfrosch sitzt. Auf dem Holzgerüst über dem Brunnen hängt an einem aufgerollten Seil ein alter Holzeimer. Der Anblick erinnert mich an das Märchen vom Froschkönig. Es fehlt nur die Krone auf dem Frosch und die bekannte Goldkugel.
Links ist ein Teich angelegt, der von hohem Schilfgras begrenzt wird. Hohe Hecken nehmen mir die Sicht auf den Rest des Gartens.
Geradeaus führt mich der Weg aus Bruchsteinplatten weiter in den Garten hinein. Unter alten Obstbäumen lädt eine kleine rote Bank zum Verweilen ein. Als ich mich setze, sehe ich den Garten aus einem anderen Blickwinkel und bin erstaunt, was ich alles entdecke.
Rosenbeete mit verschiedenen roten Blüten. Von vollem Dunkelrot bis zum leuchtenden Amarant und Bordeauxrot. Lachsfarbene Blüten mischen sich mit weißen Rosenköpfen. Die Farbenpracht nimmt mir den Atem.
Gartenhortensien von royalblau bis dunkelrosa zeigen ihre beachtlich großen Blüten. Sommerphlox, Mohn, Schwertlilien und Sonnenhut bilden eine farbenprächtige Gruppe.
Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll.
Mein Blick streift die alten Baumbestände und erkennt Apfel- und Birnenbäume, die alle einen prächtigen Fruchtansatz zeigen. Darunter finde ich Sträucher, an denen rote Johannisbeeren hängen.
In diesem Moment höre ich den schlurfenden Schritt einer alten Frau, die mit gebeugtem Oberkörper langsam den Weg entlang läuft. Sie ist auf einen Stock gestützt. Als sie ihren Kopf ein wenig hebt und mich ansieht, schaue ich in zwei lebendig blickende, braune Augen. Das Kopftuch, das sie unter dem Kinn zusammengebunden hat, ist weit zurück gerutscht. Das gibt einen Blick auf ihre weißen Locken preis. Sie lächelt. Trotzdem springe ich schuldbewusst auf, habe ich doch diesen Garten ohne Erlaubnis einfach betreten.
„Endlich mal ein neues Gesicht“, sagt sie freundlich, „behalten sie doch Platz. Sie müssen nicht aufstehen. Ich freue mich, wenn ich mich einmal mit Jemandem unterhalten kann, den ich nicht jeden Tag um mich habe. Was führt sie in unseren Garten?“
Die alte Dame setzt sich zu mir auf die Bank. Ihre Augen funkeln lebhaft als sie mich direkt ansieht.
„Sie wirken traurig und müde“, sagt sie und legt ihre Hand auf meine. „Mein Kind, sie sind zu jung und zu hübsch für sowas. Aber ich weiß, das ist leicht gesagt“, lenkt sie sofort ein. Dann wandert ihr Blick durch den Garten.
„Diese Idylle hat mich einmal gerettet, mich und meine Tochter“, spricht sie leise. „Obwohl es damals noch ganz anders aussah. Aber ich habe diesem Stückchen Land viel zu verdanken. Ich erzähle ihnen jetzt eine Geschichte. Es ist schon viele Jahre her“, sagt sie und blickt mir tief in die Augen.
Mit fester Stimme begann sie: „Die großen Obstbäume dieses Gartens spendeten Schatten. Helene saß auf der Wiese an den Stamm des alten Apfelbaumes gelehnt. Tränen liefen ihr über ihr Gesicht, als sie die Hände, die den Brief hielten, langsam sinken ließ. Jetzt hatte sie Gewissheit, dass Heiner nie wieder zurückkommen würde. Was würde aus ihr und ihrer kleinen Tochter werden?
Sie stand auf, rief das Kind zu sich und steckte den Brief in die Tasche ihrer Schürze. Sie wischte sich verstohlen die Tränen ab und als ihre Tochter auf sie zusprang, verbot sie sich jede Trauer. „Jetzt nur nicht mehr weinen, jetzt nicht“, sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin.
Sie streckte die Hand aus und ergriff die Hand ihrer Tochter. „Komm Elisabeth“, sagte sie, „wir müssen die Johannisbeeren noch ernten.“
Im Laufe der Zeit wurde der Garten ihr Zufluchtsort und ihr Ernährer. Alles, was sie für sich und ihr Kind brauchte, baute Helene in ihrem Garten an. Sie kochte und weckte ein, oder tauschte oft etwas in der Nachbarschaft ein. Helenes Luxus war ihr großer Rosenstrauch. Von ihm ging ein betörender Duft aus. Weithin leuchteten die großen lachsfarbenen Blüten. Ihn hegte und pflegte sie und konnte sich an seiner Pracht jeden Tag aufs Neue erfreuen. Die Arbeit in ihrem Garten half Helene über manch schweren Schicksalsschlag.
Die Jahre gingen ins Land und aus dem Nutzgarten mit Kartoffeln, Gemüse und Obst wurde immer mehr ein Blumen und Staudengarten. Kleine Ruheplätze legte Helene an und sie verbrachte immer noch viel Zeit hier. Als sie älter wurde und gebrechlicher, übernahm ihre Tochter mehr und mehr den großen Garten. Elisabeth war ja mit ihm aufgewachsen und liebte ihn ebenso wie ihre Mutter. So bekam der Garten nach und nach ein anderes Gesicht.
Aus den kleinen Ruheplätzen unter den alten Bäumen wurde eine große Terrasse mit einer gemütlichen Sitzgruppe. In der Mitte des großen Rosenbeetes stand auf einer Rasenfläche ein kleiner Bistrotisch mit zwei passenden Stühlen und einer Liege. Nach ein paar Jahren entstanden der Teich und der Brunnen. Einige aus Stein gehauene Figuren fanden ihren Platz in diesem großen Garten.
Heute kann ich leider nicht mehr helfen, wenn es um die Pflege des Gartens geht, aber ich bin fast jeden Tag hier“, schließt die alte Frau ihre Geschichte.
„Ich habe ihnen davon erzählt, weil ich denke, er könnte ihnen auch helfen, der Garten meine ich. Ich spreche gleich nachher mit meiner Tochter. Sie können gerne jeden Tag hierher kommen und vielleicht hilft ihnen der Garten so, wie er uns geholfen hat. Ich heiße übrigens Helene“, kichert sie und reicht mir die Hand.
Ich fühle mich sehr wohl in ihrer Nähe und freue mich über dieses großzügige Angebot sehr. Die Herzlichkeit dieser alten Frau macht mich glücklich. In diesem Moment kommt eine dunkelhaarige, hübsche Frau den Steinweg entlang.
„Mutter, hier bist du“, sagt sie und hebt mahnend aber lachend die Hand. „Hätte ich mir denken können, dass ich dich hier finde. Wissen sie“, sagt sie lächelnd in meine Richtung, „eigentlich sollte sie noch nicht bis hierhin gehen. Sie hat tagelang das Bett hüten müssen, weil sie sich eine dicke Erkältung zugezogen hatte. Aber sie hat es ohne ihren geliebten Garten nicht ausgehalten. Ich muss gestehen, dass auch ich jede freie Minute hier verbringe. Dieses Stück Land ist meine Ein und Alles. Es ist mein Zuhause.“
„Ich habe gerade dieser jungen Frau die Geschichte unseres Gartens erzählt.“ Helene lächelt. „Als ich dir sozusagen ausgerissen bin, fand ich sie hier an unserem Lieblingsplatz. Sie haben noch gar nichts von sich erzählt. Sie haben mir noch nicht einmal ihren Namen verraten“, sagt Helene und nickt mir aufmunternd zu.
„Soll ich euch noch alleine lassen?“ fragt die junge Frau und blickt von ihrer Mutter zu mir. „Ich möchte nicht stören.“
„Nein, sie stören ganz und gar nicht“, beeile ich mich zu sagen. „Es ist ein so wunderbarer Platz hier und ich bin hier einfach so eingedrungen. Bitte bleiben sie. Es macht mir nichts aus, wenn sie bleiben. Und ja, sie haben Recht, ich sollte auch etwas von mir berichten. Ich heiße Johanna“, sage ich und reiche beiden Frauen die Hand.
Elisabeth holt sich einen Stuhl und setzt sich zu uns. Wir kommen ins Gespräch und die Zeit vergeht wie im Flug. Eigenartig ist, dass ich ganz frei alles erzählen kann, was ich lange nicht aussprechen konnte. Als ich den Heimweg antrete, ist es später Nachmittag, ich habe mich für den nächsten Tag verabredet und freue mich schon darauf, die beiden Frauen wieder zu sehen. So viel wie an diesem Nachmittag habe ich lange Zeit nicht mehr geredet.
Das Alles passierte vor zwei Jahren.
Ich bin seit dieser Zeit mit Helene und Elisabeth befreundet. Wir haben viele Gespräche geführt und sehr viel voneinander erfahren. Nach kurzer Zeit habe ich gebeten, in ihrem Garten mithelfen zu dürfen. So arbeiten wir viel gemeinsam an und in diesem herrlichen Fleckchen Erde. Auch ich merke heute die magische Kraft, die von diesem Garten ausgeht. Es ist als ob er lockt mit seinen Farben und Düften. Selbst in der kalten Jahreszeit komme ich mindestens zweimal pro Woche hierher und genieße die Ruhe und die Abgeschiedenheit. Danach gehe ich immer noch eine Stunde zu Helene und Elisabeth, die ganz in der Nähe in einem kleinen Fachwerkhaus leben. Oft genießen wir die Früchte, die wir im Sommer geerntet haben.
Meinen Therapeuten habe ich schon seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Heute geht es mir so gut, wie schon lange nicht mehr. Mein wirklicher Therapeut ist mehrere tausend Quadratmeter groß, grün und oft auch bunt. Manchmal säuselt er leise, raschelt, flüstert, piept zwitschert oder plätschert. Er hat immer Sprechstunde, ich muss mich nicht anmelden und kann ihn Tag und Nacht besuchen. Ich habe liebe und aufrichtige Menschen und dazu noch meine Traumwelt gefunden.